Themenatelier „Ganztagsschule der Vielfalt“

 

Ergebnisse der vorbereitenden Recherche der RAA Berlin

In der Zeit vom 20. 08. 07 bis 05.09. 07 wurden von der RAA Berlin in NRW, Hessen, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern 11 Ganztagsschulen mit hohem Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund, 15 Migrantenselbstorganisationen und Bildungsträger sowie 13 Schulunterstützungsprojekte mittels eines leitfadengestützten offenen Interviews über ihre Erfahrungen und ihre Konzepte zum Thema „Herausforderungen und Chancen bei der Integration von Schülern mit Migrationshintergrund an Ganztagsschulen“ befragt.

Auf dem Ganztagsschulkongress am 21. / 22. September 2007 in Berlin wurde darüber hinaus die Perspektive von 10 weiteren Serviceagenturen mit Hilfe eines schriftlichen Fragebogens erhoben. Derzeit wird die Befragung in Berlin, Sachsen und Brandenburg weitergeführt; dabei soll insbesondere überprüft werden, ob Schulen aus den neuen Bundesländern besonderen Unterstützungsbedarf bei der Integration von Schülern mit Migrationshintergrund haben. Die Befragung orientierte sich am „Vorläufigen Qualitätsrahmen für Ganztagsschulen“, der von der Werkstatt „Entwicklung und Organisation von Ganztagsschulen“ am Institut für Schulentwicklung in Dortmund entwickelt wurde. Ziel der Befragung war es, schon bestehende gute Praxis-Modelle und weitergehenden Unterstützungsbedarf zu identifizieren.

Ergebniskategorien

Die Ergebnisse der Befragung wurden nach vier Kategorien unterteilt:

  • Berücksichtigung der vorhandenen kulturellen Vielfalt bei der Unterrichtsgestaltung und bei der Schulorganisation
  • Sprachförderung und sprachunabhängige Lernstandsmessung
  • Elternbeteiligung und Kooperation mit außerschulischen Kooperationspartnern mit Migrationshintergrund
  • schulische Übergänge.

Zentrale Ergebnisse

  • Bei allen vier Themen lässt sich in der Breite der Ganztagsschulen ein großer Entwicklungsbedarf ausmachen.
  • Der größte Entwicklungsbedarf besteht bei von Deutschkenntnissen unabhängigen Lernbeobachtungsverfahren.
  • Bezogen auf einige Themen gibt es allerdings gute Einzelbeispiele, die aufgegriffen und verbunden werden können.
  • Die aktive Einbeziehung von Menschen mit Migrationshintergrund in verantwortlicher Rolle in den Schulen bzw. in den Kooperationsprojekten erweist sich bei vielen Beispielen als Schlüssel, um Zugang zu unterschiedlichen Communities zu bekommen.

Kommunale Partnerschaften unter Einbeziehung von Schulen und Migrantenselbstorganisationen haben sich in vielen Einzelbeispielen als tragfähige Grundlage für die Entwicklung guter Praxis- Beispiele erwiesen.

Die Ergebnisse im Einzelnen

Berücksichtigung der vorhandenen kulturellen Vielfalt bei der Schulorganisation und im Unterricht

Bei der Befragung von Schulen, die bereits mehrheitlich in besonderer Weise im Themenbereich Integration aktiv sind wurden eine Vielzahl von Beispielen für die Gestaltung des Unterrichts- bzw. Nachmittagsangebots gefunden. Die Mehrheit der befragten Schulen stellt den Bezug zur kulturellen Vielfalt der Schüler über den muttersprachlichen Unterricht in einer oder mehreren Familiensprachen her. Einzelne Schulen integrieren Geschichte und Geografie der Herkunftsländer, muttersprachliches Märchenerzählen, islamischen Religionsunterricht oder orientalische Musik in den Unterricht oder die Nachmittagsangebote oder suchen eine Moschee als außerschulischen Lernort auf. Kollegen mit Migrationshintergrund sind in fast allen Teams als Lehrer oder Sozialpädagoginnen vertreten und setzen ihre interkulturelle und sprachliche Kompetenz bei Projekten wie Elternkurs mit Elterndiplom, zweisprachige Elternsprechtage, Mutter-Kind-Seminar, mehrsprachiges Singen und Musizieren und internationales Kochen sowie beim Übersetzen bei Elterngesprächen ein. Beim für Ganztagsschulen charakteristischen Mittagsangebot gaben sieben der elf befragten Schulen an, dass alle Gerichte schweinefleischfrei seien.

Nach Aussage der Serviceagenturen besteht Entwicklungsbedarf in den folgenden Bereichen:

  • kulturelle Identifikationsmöglichkeiten für Schüler mit Migrationshintergrund im Unterricht oder Nachmittagsangebot und beim Besuch außerschulischer Lernorte einräumen
  • Umgang mit kulturell-religiösen Geboten bei einzelnen Familien mit oder ohne Migrationshintergrund bspw. im Biologie/Sexualkundeunterricht, beim Schwimmen oder bei der Frage der Teilnahme an Klassenfahrten
  • den unsicheren Aufenthaltstatus von Schülern aus Flüchtlingsfamilien und dessen negative Auswirkungen auf den Schulbesuch wahrnehmen und thematisieren
  • religiöse oder kulturelle Feste der Familien mit Migrationshintergrund in der wöchentlichen und jährlichen Zeitplanung berücksichtigen und gemeinsam in der Schule feiern
  • mehrsprachige Texte und Hinweisschilder oder ästhetische Elemente bei der Gestaltung von Schule und Pausenhof anwenden, die die vielfältigen kulturellen Hintergründe der Schüler berücksichtigen

Sprachförderung

Alle befragten Schulen haben Konzepte zur besonderen Sprachförderung im Angebot; dabei wünschen sich viele Schulen einen höheren Anteil von Kolleginnen und Kollegen mit Migrationshintergrund. Nach Aussage der befragten Mitarbeiter aus dem BLK-Programm FörMig ist die Pflege und Förderung der Erstsprache der Kinder, die oftmals als Sprungbrett zum Erlernen von Deutsch als Zweitsprache genutzt werden, von besonderer Bedeutung. Unterricht in der Muttersprache wird somit als besonders geeignete Integrationsmaßnahme für Kinder mit Migrationshintergrund gesehen. Zur Messung der Sprachentwicklung selbst kommen verschiedene Methoden zur Anwendung (u.a. SISMiK - Sprachverhalten und Interesse an Sprache bei Migrantenkindern in Kindertageseinrichtungen - mit der der Schule von der kooperierenden Kita ein differenziertes Bild über Stärken und Förderbedarf der Sprachentwicklung bei den einzelnen Kindern übermittelt werden kann oder Sprachlerntagebücher wie z.B. das Logobuch.).

Die Umfrage unter den Serviceagenturen ergab, dass es vor allem beim Einsatz von differenzierten und sprachunabhängigen Diagnostiken und Methoden zur Lernstandsmessung noch Entwicklungsbedarf gibt und die Lernsituation der Schüler in ihren Erstsprachen und Deutsch nicht immer als komplexes System von Stärken und Schwächen wahrgenommen wird, in welchem individuelle Lernfortschritte dokumentiert werden können.

Elternbeteiligung und Kooperation mit außerschulischen Kooperationspartnern mit Migrationsbezug

Alle befragten Schulen legen großen Wert auf Elternbeteiligung. Beratungsangebote in schulischen und sozialen Fragen, Sprachkurse für Eltern mit geringen Deutsch-Kenntnissen, mehrsprachige Elternbriefe, Elterncafés, -stammtische, -kurse oder –versammlungen sind die häufigsten Projektansätze der befragten Schulen. Die Mitwirkung von muttersprachlichen Mitarbeitern steigert in der Regel den Erfolg der Angebote für Eltern mit Migrationshintergrund. Besonders erfolgversprechend erscheinen Projekte, die auf die Ausbildung und den Einsatz von Eltern oder anderen Angehörigen der Minderheit als Vermittler setzen („Integrationslots/innen“). Ein wichtiges Strukturelement von Ganztagsschulen ist die Kooperation mit außerschulischen

Kooperationspartnern. Mehrere der befragten Schulen versuchen durch die Einbeziehung von Migrantenselbstorganisationen die Kooperation mit außerschulischen Partnern auch für die Integration von Schülern mit Migrationshintergrund fruchtbar zu machen. Vereinzelt werden neben Sozialeinrichtungen, Kirchen, Theatern und Konzerthäusern auch Moscheen als außerschulische Lernorte von den befragten Schulen benannt. Gleichzeitig zeigen sich an diesem Punkt jedoch auch große Unsicherheiten: So fragte eine der befragten Schulen nach einer Aufstellung unbedenklicher Organisationen, um eine versehentliche Zusammenarbeit mit islamistischen oder anderen fundamentalistischen Organisationen zu verhindern.

Der Entwicklungsbedarf in diesem Themenfeld bezieht sich auf die Partizipation von Eltern oder Schülern mit Migrationshintergrund in Mitbestimmungsgremien und die Verbesserung der Zusammenarbeit mit Migrantenselbstorganisationen sowie die Einbeziehung von Experten mit Migrationshintergrund in die Unterrichtsgestaltung.

Die Förderung schulischer Übergänge

Die Begleitung der Übergänge der Kinder aus dem Elementar- in den Primarbereich dient vor allem der Verbesserung der deutschen Sprachkenntnisse bei Schüler/innen mit anderen Familiensprachen, um grundlegenden Nachteilen beim Schulbeginn vorzubeugen. Zweiter Schwerpunkt der Kooperation von Kindergärten und Grundschulen ist die frühzeitige und vertrauensvolle Kontaktaufnahme zu den Eltern. Informationen über die Unterrichtsinhalte und die Lernentwicklung der Kinder können dazu beitragen, dass der Bildungsprozess in der Familie mit Interesse begleitet und im Bedarfsfall unterstützt werden kann (Formen der Zusammenarbeit sind: Informationsveranstaltungen für die Eltern, die in Kooperation mit der Lehrerin der ersten Klasse und der Erzieherin der Kita gemeinsam organisiert werden, die Übergabe einer Sprachstandsmessung durch die Kita an die Schule, Sprachförderunterricht von Grundschullehrern in Kitas, Flächendeckende Testung der sprachlichen Fähigkeiten aller zukünftigen Schüler durch die wohnortzugehörige Grundschule und Organisation von schulvorbereitender Sprachförderung im Bedarfsfall, Lernpatenschaften von Schulen und Kitas, bei denen die Kita-Kinder bereits die Räume der Schule für einzelne Aktivitäten nutzen können.).

Fast alle befragten Oberschulen betreiben gesonderte Projekte (Konkrete Projekte zur Vorbereitung auf die Berufsausbildung sind: Peilung, SchuB-Klasse - Lernen in Schule und Betrieb, LeBO, Leben und Berufsorientierung, Mathe-Fit und Deutsch-Fit als Nachmittagskurse für die 10.Klassen zur Vorbereitung auf den mittleren Schulabschluß, Kompetenzfeststellung in Jahrgang 8, Betriebspraktikum in Jahrgang 9, intensive persönliche Betreuung bei der Anschlusssicherung in Jahrgang 10.) zu Verbesserung des Übergangs von der Schule in den Beruf für lernschwache Schüler/innen; von diesen Projekten profitieren auch Schüler/innen mit Migrationshintergrund. Daneben gibt es Schulen, bei denen durch die gemeinsame Unterrichtung von Real- und Hauptschülern oder durch den Einsatz von Mentoren oder Buddies lernstarke Schüler als Hilfe, Vorbild und Ermutigung für Schülerinnen mit Lernproblemen fungieren.

Besonders erfolgversprechend scheinen zusätzlich stadtteilbezogene Bildungsverbünde zu sein, bei denen alle Bildungsakteure ihre Ziele und Maßnahmen aufeinander abstimmen. Trotz vorhandener Bemühungen um die Verbesserung der Übergänge in die berufliche Bildung bleibt ein großer Entwicklungsbedarf, die Ergebnisse für Kinder mit Migrationshintergrund generell zu verbessern. Konkrete Projekte setzen an allen drei Übergängen Kita/Grundschule, Grund-/Oberschule und Oberschule/Ausbildung an.

Sicht der Migrantenselbstorganisationen

Bei der Befragung der Vertreter der Migrantenorganisationen hinsichtlich ihrer Erfahrungen in der Kooperation mit Schulen benennen diese, dass die Berücksichtigung der kulturellen Vielfalt im Unterricht nur zur besonderen Anlassen wie Tage der Migration, Weihnachten oder in Projektwochen oder am Nachmittag erfolgt. Die Angebote konzentrieren sich den Befragten zufolge auf Märchen, Musik und Tänze, Kochen und den muslimischen Religionsunterricht. Im Unterricht selbst erscheinen Elemente der Herkunftskultur u.a. in Referaten über die kulturellen Hintergründe der Schüler oder in Biographieerzählungen von älteren Migrantinnen (Spanischer Elternbund Confederation in Bonn Mehlem). Für die meisten der befragten Migrantenselbstorganisationen trägt die Förderung der Muttersprache (Das Engagement der Eltern und die Einführung des muttersprachlichen Unterrichts bewirkten, aus der Sicht des spanischen Elternverbandes, dass 70% der spanischen Kinder in Deutschland das Fachabitur erreichen. Bedauert werden die wenig vorhandenen multikulturellen Lehrerteams an Ganztagsschulen.) maßgeblich zum Schulerfolg insgesamt bei.

Im Rahmen der Zusammenarbeit von Ganztagsschulen und Migrantenselbstorganisationen suchen Lehrer Migrantenselbstorganisationen oft auf, um ihre Funktion als Brückenbauer zu nutzen. Die Zusammenarbeit reicht von der Nutzung des Übersetzungs- und Begleitdienstes bis hin zum gemeinsamen Integrationskonzept im Bildungsverbund (Anadolu Wuppertal e.V. sowie Föderation Türkischer Elternvereine), der aus Schulleitung, Familienberatungsstädten, Jugendamt, Migrantenorganisation und der RAA besteht. Eine der befragten Migrantenselbstorganisationen ist an zwei Ganztagsschulen verantwortlich für die gesamte Organisation des außerschulischen Lernbereiches am Nachmittag und die Durchführung der Schulsozialarbeit (KUBI e.V. in Frankfurt).

Bezüglich der Einbeziehung der Eltern berichten die befragten Migrantenselbstorganisationen von mangelnden Kenntnissen der Eltern über das deutsche Bildungssystem im Allgemeinem und der Ganztagschule im Besonderen. Viele Eltern haben Verständigungsprobleme und sind mit den Anforderungen der Elternbeteiligung überfordert (Die Einbeziehung der Eltern mit Migrationshintergrund erfolgt hauptsächlich bei der Mitgestaltung von Schulfesten. Die Eltern berichten dass sie sich in die Gremien nicht wählen lassen, da sie sich den schriftlichen Anforderungen nicht gewachsen fühlen, wodurch die Elterngremien an Schulen teilweise nicht existieren.)  oder werden über die schlechten Leistungen ihres Kindes viel zu spät informiert, so dass eine Intervention kaum noch möglich ist. In den Elterngesprächen mit den Lehrern vermissen die Eltern positive Aussagen über ihre Kinder, so dass die Kommunikation meistens problembehaftet ist.

Positive Beispiele der Beteiligung von Eltern mit Migrationshintergrund in Schulgremien sind in der Regel mit den Kooperationspartnerschaften von Schule und Migrantenselbstorganisationen gekoppelt.

Eltern mit Migrationshintergrund fühlen sich durch Übersetzungsmöglichkeiten und Vertrauenspersonen mit Kenntnissen ihrer kulturellen Hintergründe ermutigt, an Themen wienVerbesserung des Mittagsbandes, Ausbau und Gestaltung des pädagogischen Nachmittagsprogramms, Maßnahmen zur Gewaltprävention und im Elterncafe mitzuarbeiten. Mehrheitlich benennen die Migrantenselbstorganisationen, dass sie als Brückenbauer für die Elternarbeit der Schule und für den Dialog über kulturelle Werte, Normen und kulturell-religiöse
Bedingungen beim Schulschwimmen, Sport- und Biologieunterricht (Sexualkunde) zuwenig von den Ganztagsschulen einbezogen werden.

Den meisten befragten Migrantenselbstorganisationen sind Unterstützungsprojekte für die Übergänge Kindergarten-Grundschule und Grundschule-Oberschule nicht bekannt. Zwei der befragten Migrantenselbstorganisationen gestalten Informationsveranstaltungen für die Eltern von Grundschülern in Zusammenarbeit mit den Oberschulen in Ihren eigenen Einrichtungen. Ein weiteres positives Beispiel sind die Maßnahmen zur Vorbereitung der Zentralen Abschlussprüfung für den Mittleren Schulabschluss in Zusammenarbeit mit Schule und Migrantenorganisation (Anadolu Wuppertal e.V). Der inhaltliche Schwerpunkt der Migrantenorganisation KUBI e.V. in Frankfurt ist es, jungen Migrantinnen in eine
Ausbildung zu verhelfen. Das Angebot reicht von Profilerstellung, Bewerbungstraining bis hin zur Vermittlung eines Ausbildungsplatzes durch Partnerschaften in Betrieben. Entwicklungsbedarf besteht somit zum einen bei der Information von Migrantenselbstorganisationen über die bei Ganztagsschulen bestehenden Kooperationsmöglichkeiten mit außerschulischen Partnern. Ebenso bedarf es der Intensivierung des Erfahrungsaustausches unter den im Bildungsbereich tätigen Migrantenselbstorganisationen, um über das Vorhandensein und die Funktion erfolgreicher Ansätze zu informieren. Schwerpunkt der Kooperationsmöglichkeiten liegen bei der Unterstützung der Schulen in den Bereichen der Elternpartizipation und der Gestaltung von Unterricht und Nachmittagsangebot. Eine zentrale Rolle spielen Migrantenselbstorganisationen als Katalysator und Initiator ebenfalls bei der Initiierung lokaler Bildungsverbünde.

 

Datum: 07.10.2008
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